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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 15.11.2023 - 1 C 7.22 - asyl.net: M31971
https://www.asyl.net/rsdb/default-87608d77af
Leitsatz:

Kein abgeleiteter Flüchtlingsschutz bei Geburt im Aufnahmemitgliedstaat:

1. Die Familienangehörigen eines nach der Ausreise aus dem verfolgenden Staat geborenen Kindes, dem in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 5 i.V.m. § 26 Abs. 3 AsylG.

2. Dies gilt auch, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft der Eltern oder auch die gesamte Familie bis auf das stammberechtigte Kind bereits im verfolgenden Staat bestanden hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienschutz, in Deutschland geborenes Kind, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 26 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 2, RL 2011/95/EU Art. 23
Auszüge:

[...]

12 2.1 Die Anerkennung der Tochter als Flüchtling begründet für die Kläger zu 1. und 2. keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft als Eltern eines minderjährigen ledigen Flüchtlings. Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG wird den Eltern eines minderjährigen ledigen Flüchtlings auf Antrag unter bestimmten, dort näher aufgeführten Voraussetzungen ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Unter anderem setzt dies voraus, dass die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Flüchtling verfolgt wird. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, weil die schutzberechtigte Tochter erst in Deutschland geboren worden ist. Der Begriff der Familie im Sinne von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG und von Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU bezeichnet die familiäre Beziehung zwischen dem schutzberechtigten Kind und dem Elternteil oder sonstigen berechtigten Erwachsenen, der den abgeleiteten Schutzstatus begehrt. Diese muss bereits im Herkunftsstaat bestanden haben. Dass die Eltern des Schutzberechtigten im Herkunftsstaat bereits in ehelicher Lebensgemeinschaft zusammengelebt haben, ist in diesem Zusammenhang hingegen weder ausreichend noch erforderlich. Es genügt deshalb nicht, dass der minderjährige Schutzberechtigte im Aufnahmemitgliedstaat in eine Ehe hineingeboren worden ist, die bereits im Herkunftsstaat bestanden hat (wie hier neben dem Berufungsgericht u. a. VG Hamburg, Urteil vom 20. Februar 2019 - 16 A 146/18 [ECLI:DE:VGHH:2019: 0220.16A146.18.00] - juris Rn. 26; VG Aachen, Urteil vom 1. Juni 2021 - 2 K 922/18.A [ECLI:DE:VGAC:2021:0601.2K922.18A.00] - juris Rn. 32 ff.; VG Gießen, Urteil vom 26. November 2021 - 8 K 1508/18.GI.A -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 3. April 2023 - 23 K 8471/21.A -; Epple, in: GK-AsylG, Stand: August 2023, § 26 Rn. 63, 63.1; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Juni 2023, § 26 AsylG Rn. 98 ff.; Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 26 Rn. 39; a. A. OVG Koblenz, Beschluss vom 25. Juli 2022 - 13 A 11241/21.OVG [ECLI:DE: OVGRLP:2022:0725.13A11241.21.00] - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 [ECLI:DE:VGSIGMA:2017:0519.A3K3301.16.0A] - juris; VG Freiburg, Urteile vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/17 - juris und vom 27. August 2020 - A 10 K 8179/17 - juris; Broscheit, ZAR 2019, 174; Münch, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 26 AsylG Rn. 44; Günther/Nuckelt, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.10.2023, § 26 Rn. 23b; Blechinger, in: BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 15.10.2023, § 26 AsylG Rn. 52a). [...]

14 Mit § 26 Abs. 3 AsylG hat der Gesetzgeber somit erkennbar Unionsrecht umgesetzt und dessen tatbestandlichen Anforderungen (vollständig) genügen wollen. Zugleich hat er diese Umsetzung aber im Rahmen und im System des bestehenden nationalen Familienasyls vorgenommen und sich etwa bei der Formulierung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG an der parallelen Einschränkung beim Ehegattenasyl orientiert (vgl. § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG). Der Systematik und Teleologie des nationalen Familienasyls entspricht es, dass die "Familie", die gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG schon im Verfolgerstaat Bestand gehabt haben muss, zwingend den Schutzberechtigten einschließt (dazu b). Auch die in Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU enthaltene Einschränkung "sofern die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden hat" ist in diesem gleichen Sinne auszulegen (dazu c). [...]

19 Die abweichende Auffassung, nach der es ausreicht, wenn im Herkunftsstaat eine eheliche Lebensgemeinschaft der Eltern mit oder ohne weitere Kinder, aber ohne den erst in Deutschland geborenen Stammberechtigten ("Kern-" oder "Restfamilie") bestand, ist von der erwähnten Teleologie des Familienasyls hingegen nicht gedeckt. Sie führt im Gegenteil zu einer anderweitigen Differenzierung, für die sich keine sachlichen Gründe finden lassen: Dass ein Elternteil, der sich auf den Elternschutz beruft, im Verfolgerstaat des schutzberechtigten nachgeborenen Kindes mit dem anderen Elternteil und ggf. älteren Geschwistern dieses Kindes bereits eine Familie gebildet hat, vermag eine Privilegierung nicht zu rechtfertigen. Die Beziehung des stammberechtigten Kindes zum jeweiligen Elternteil, die § 26 AsylG asylrechtlich zu schützen beabsichtigt, wird nicht dadurch schutzwürdiger, dass dieser Elternteil bereits mit anderen Personen im Herkunftsland eine Familie gebildet hat (vgl. Epple, in: GK-AsylG, Stand: 1. Dezember 2019, § 26 Rn. 63.1; VG Gießen, Urteil vom 26. November 2021 - 8 K 1508/18.GI.A - juris Rn. 32). Dies bewirkt zudem keine zusätzliche Gefährdung des Elternteils. Entgegen der Andeutung des Klägers bestehen auch keine  Anhaltspunkte dafür, dass die Beschränkung des Kreises der Anspruchsberechtigten auf Eltern, die mit dem Stammberechtigten bereits im Herkunftsstaat eine Familie gebildet haben, auf den Ausschluss aufenthaltsrechtlich motivierter Zweckehen zielte. Anders als beim Ehegattenasyl ist beim Elternasyl eine Ehe überhaupt nicht tatbestandsprägend, sondern kommt es auf die Eltern(teil)-Kind-Beziehung an. [...]

21 Diese im nationalen Recht vorgesehene Privilegierung des Kinderasyls gegenüber dem Elternasyl verletzt nicht Art. 3 Abs. 1 GG. Ihr liegt die Erwägung zugrunde, dass minderjährige Kinder eines verfolgten Erwachsenen unabhängig davon, ob sie bereits vor der Ausreise geboren und Teil der Familie waren, regelmäßig mit "im Visier" der Verfolger stehen. Dies rechtfertigt die pauschale Zuerkennung des abgeleiteten Schutzes. Die Annahme, dass im umgekehrten Fall eines schutzberechtigten Kindes nicht in gleicher Weise pauschal eine Gefährdung auch der Eltern unterstellt werden kann, ist ohne Weiteres nachvollziehbar und vermag die Ungleichbehandlung hinreichend zu rechtfertigen. Dass ein erst nach Verlassen des Herkunftslandes geborenes Kind in der Europäischen Union als Flüchtling anerkannt wird, seine Eltern aber nicht, betrifft von vornherein nur seltene Fallkonstellationen. Regelmäßig geht es dabei um Mädchen, denen im Herkunftsland Genitalverstümmelung droht. Diese geschlechts- und altersspezifische Verfolgung hat einen – höchstpersönlichen – Grund, der nicht pauschal und regelmäßig auch auf eine Verfolgung der Eltern schließen lässt (hierzu etwa VGH München, Beschluss vom 12. April 2019 - 9 ZB 19.31228 [ECLI:DE:BAYVGH:2019:0412.9ZB19.31228.00] - juris; Französischer  Conseil d'État, Gutachten [avis] vom 20. November 2013, n° 368676). Es ist daher nicht sachwidrig, in derartigen Fällen den Eltern Flüchtlingsschutz nur dann zuzuerkennen, wenn eine auch ihnen in eigener Person drohende Verfolgung im Einzelfall festzustellen ist. [...]

23 c) In demselben Sinne ist die – für das Verständnis des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG maßgebliche – unionsrechtliche Regelung in Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU auszulegen. Sie verlangt ebenfalls, dass die Familie bestehend aus dem Stammberechtigten und dem Familienangehörigen, der sich auf den Anspruch aus Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU beruft, bereits im Herkunftsland bestanden haben muss. [...]

25 Damit hat sich der Unionsgesetzgeber dazu entschieden, die spezifisch mit dem internationalen Schutz verbundene Verpflichtung zur Wahrung des Familienverbands auf familiäre Beziehungen zu beschränken, die bereits im Herkunftsstaat bestanden haben (ebenso Art. 2 Buchst. g VO (EU) 604/2013, Art. 2 Buchst. c RL 2013/33/EU). Dass sich die durch Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU vermittelten Rechte auf familiäre Beziehungen beschränkt, die bereits im Herkunftsland bestanden haben, lässt sich mittelbar Art. 23 Abs. 5 RL 2011/95/EU entnehmen. Danach können die Mitgliedstaaten entscheiden, dass dieser Artikel auch für andere enge Verwandte gilt, die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten und zu diesem Zeitpunkt vollständig oder größtenteils von der Person, der internationaler Schutz gewährt worden ist, abhängig waren. Mit dieser Formulierung lässt der Unionsgesetzgeber erkennen, dass er auch bei den von Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU erfassten Familienangehörigen vom Bestehen eines Familienverbands zwischen der schutzberechtigten Person und dem Familienangehörigen bereits im Herkunftsstaat ausgeht (ebenso Generalanwalt J. Richard de la Tour, Schlussanträge vom 12. Mai 2021 - C-91/20 [ECLI:EU:C: 2021:384] - juris Rn. 32). In diese Richtung kann der Erwägungsgrund 16 der Richtlinie gedeutet werden, in dem es heißt, dass der Unionsgesetzgeber die uneingeschränkte Wahrung der Rechte der "Asylsuchenden und d[er] sie begleitenden Familienangehörigen" sicherstellen muss (siehe auch Generalanwalt P. Pikamäe, Schlussanträge vom 30. September 2021 - C-483/20 [ECLI:EU:C:2021:780] - Rn. 39). [...]

31 2.2 Für die Kläger zu 3. und 4. begründet die Anerkennung ihrer minderjährigen Schwester als Flüchtling keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft, weil ihre familiäre Verbindung zu der Schwester nicht bereits im Herkunftsland bestanden hat. [...]