EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 05.10.2023 - C-294/22 - Frankreich gegen SW (Asylmagazin 12/2023, S. 429 f.) - asyl.net: M31870
https://www.asyl.net/rsdb/m31870
Leitsatz:

Reichweite der Schutzgewährung durch UNRWA:

Der Schutz staatenloser Palästinenser*innen durch die UNRWA ist nicht länger als gewährt anzusehen, wenn der Zugang zu medizinischer Versorgung und Behandlung durch die UNRWA nicht gewährleistet werden kann, ohne die für die Person eine tatsächliche unmittelbare Lebensgefahr oder die tatsächliche Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: UNRWA, Palästinenser, staatenlose Palästinenser, ipso facto-Flüchtling
Normen: RL 2011/EU/95 Art. 12 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

24 Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, wenn diese Organisation einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, dem dieser Schutz oder Beistand gilt, den Zugang zu der medizinischen Versorgung und Behandlung, die sein Gesundheitszustand erfordert, nicht gewährleisten kann. [...]

29 Konkret hat jede Person, die wie SW beim UNRWA registriert ist, Anspruch auf den Schutz und Beistand dieser Organisation, damit ihrem Wohlergehen als Flüchtling gedient ist (Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C-349/20, EU:C:2022:151, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30 Wegen dieses in den genannten Gebieten des Nahen Ostens eingeführten speziellen Flüchtlingsstatus für Palästinenser ist es nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2011/95, der Art. 1 Abschnitt D Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht, für die beim UNRWA registrierten Personen grundsätzlich ausgeschlossen, in der Union als Flüchtling anerkannt zu werden (Urteil vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C-507/19, EU:C:2021:3, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31 Allerdings folgt aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95, der Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht, dass in dem Fall, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, dieser Betroffene ipso facto den Schutz der Richtlinie 2011/95 genießt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C-349/20, EU:C:2022:151, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

36 So kann, wenn die Entscheidung, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, durch Zwänge begründet ist, die vom Willen des Betroffenen unabhängig sind, eine solche Situation zu der Feststellung führen, dass der Beistand, den diese Person genossen hat, im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 nicht länger gewährt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Dezember 2012, Abed El Karem El Kott u. a., C-364/11, EU:C:2012:826, Rn. 59). [...]

38 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass entgegen dem Vorbringen der belgischen und der französischen Regierung für die Feststellung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 nicht länger gewährt wird, weil eine internationalen Schutz beantragende Person gezwungen war, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, nicht nachgewiesen werden muss, dass das UNRWA oder der Staat, in dem es tätig ist, die Absicht hatte, dieser Person durch Tun oder Unterlassen Schaden zuzufügen oder ihr den Beistand zu entziehen. Es genügt der Nachweis, dass der Beistand oder Schutz des UNRWA tatsächlich aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, so dass das UNRWA aus objektiven oder mit der persönlichen Situation der besagten Person zusammenhängenden Gründen nicht länger in der Lage ist, ihr die Lebensbedingungen zu gewährleisten, die mit seiner Aufgabe im Einklang stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Depart - ment [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C-349/20, EU:C:2022:151, Rn. 72). [...]

45 Aus dem Vorstehenden ergibt sich zum einen, dass der Umstand, dass die vom UNRWA gewährleisteten Gesundheitsleistungen hinter denen zurückbleiben, die diese Person in Anspruch nehmen könnte, wenn sie in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt würde, nicht für die Annahme ausreichen kann, dass sie gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen.

46 Zum anderen ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 80 und 81 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, bei einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft davon auszugehen, dass er gezwungen war, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, wenn für ihn aufgrund der Unmöglichkeit, seitens des UNRWA die für seinen Gesundheitszustand erforderliche Versorgung bereitgestellt zu bekommen, eine tatsächliche unmittelbare Lebensgefahr oder die tatsächliche Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands oder einer erheblichen Verkürzung seiner Lebenserwartung besteht.

47 Es ist Sache des nationalen Gerichts, das Bestehen einer solchen Gefahr auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C-349/20, EU:C:2022:151, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA als nicht länger gewährt anzusehen ist, wenn diese Organisation einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, dem dieser Schutz oder Beistand gilt, den Zugang zu der medizinischen Versorgung und Behandlung nicht gewährleisten kann, ohne die für ihn eine tatsächliche unmittelbare Lebensgefahr oder die tatsächliche Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands oder einer erheblichen Verkürzung seiner Lebenserwartung besteht. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das Bestehen einer solchen Gefahr zu prüfen. [...]