OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 11.10.2023 - 10 LB 18/23 (Asylmagazin 12/2023, S. 422 f.) - asyl.net: M31913
https://www.asyl.net/rsdb/m31913
Leitsatz:

Keine systemischen Mängel im kroatischen Asylsystem für Dublin-Rückkehrende trotz Push-Backs:

Zwar kommt es immer wieder zu menschenrechtswidrige Zurückschiebungen [Push-Backs] aus Kroatien nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina, allerdings liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass auch Personen, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Kroatien abgeschoben wurden, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VG Hannover, Beschluss vom 07.09.2022 - 15 B 3250/22 - asyl.net: M30979)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Kroatien, Zurückschiebung, Push-Backs, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, systemische Mängel,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, GFK Art. 33 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt hat den Asylantrag der Kläger zu Recht als unzulässig abgelehnt.

Die Asylanträge sind nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG unzulässig, weil Kroatien aufgrund der bereits dort gestellten Asylanträge gemäß Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO für die Durchführung der Asylverfahren zuständig ist. [...]

Von diesen Maßstäben ausgehend, wird die erforderliche hohe Schwelle der Erheblichkeit systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Kläger im Zeitpunkt ihrer Rücküberstellungen nach Kroatien, während ihrer Asylverfahren oder nach deren Abschluss einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wären, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK zu erfahren, nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel zur Rückkehr von Asylsuchenden nach Kroatien im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens nicht erreicht.

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat hierzu in seinem Urteil vom 11. Mai 2023 (– A 4 S 2666/22 –, juris Rn. 23-96) ausgeführt:

"Dem Senat ist durchaus bewusst, dass es in einigen Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenze nnach zahlreichen Berichten immer wieder zu Push-Backs kommen soll, gerade auch in Kroatien [...] und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Praxis bereits als menschenrechtswidrig beanstandet hat [...], wenngleich nicht in allen Fällen [...].

Die Problematik von Push-Backs an den EU-Außengrenzen ist allerdings als solche nicht entscheidungserheblich. Vielmehr steht im vorliegenden Verfahren im Zentrum die Frage, ob rechtswidrige Push-Backs oder Kettenabschiebungen bzw. Verstöße gegen den Non-Refoulement-Grundsatz auch von Dublin-Rückkehrern nach Rückführung oder freiwilliger Rückkehr nach Kroatien zu erwarten sind. Hierfür fehlen nach Überzeugung des Senats tragfähige Erkenntnismittel, weshalb entsprechende Unzuständigkeitsentscheidungen bzw. Abschiebungsanordnungen auch nicht an Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO scheitern. [...]

4. Solche systemischen Schwachstellen vermag der Senat hinsichtlich Kroatiens, das im Übrigen nach EU-Evaluierung zum 01.01.2023 auch in den Schengen-Raum aufgenommen wurde, d.h. unionsrechtliche Standards bei Grenzkontrollen einhalten muss, im Rahmen des Dublin-III-Systems derzeit nicht zu erkennen, auch nicht im Hinblick auf Push-Backs und Kettenabschiebungen in Drittstaaten. Insbesondere die vom Verwaltungsgericht Braunschweig vom 24.05.2022 - 2 A 26/22 - (Juris) und im Anschluss daran vom Verwaltungsgericht Freiburg aufgeführten Erkenntnismittel widerlegen die aus dem unionsrechtlichen Mutual-Trust-Grundsatz folgende Vermutung einer ordnungsgemäßen Behandlung von Asylantragstellern nicht.

a. Es ist davon auszugehen, dass Personen, die auf der Grundlage der Dublin III-Verordnung nach Kroatien zurückkehren, nach der kroatischen Rechtslage ungehinderten Zugang zum Asylsystem haben, d.h. zunächst wieder in das nationale Asylverfahren integriert werden [...], und hierbei keine Push-Backs oder Kettenabschiebungen erleiden müssen. Anhaltspunkte dafür, dass etwa nach Zagreb Abgeschobene durch Sicherheitskräfte vom Flughafen aus an die EU-Außengrenze und dort weiter in Drittstaaten gebracht werden, gibt es keine [...]."

Diesen überzeugenden Ausführungen folgt der Senat.

Auch nach den neuesten Erkenntnismitteln liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass es im Falle von sogenannten Dublin-Rückkehrern, von denen es im Jahr 2022 in Kroatien 167 und davon 89 aus Deutschland gegeben hat (Asylum Information Data Base = AIDA, Country Report Croatia 2022, Update Juni 2023, Seiten 47 und 48), zu Ketten-Abschiebungen oder anderen Verletzungen ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC gekommen ist.

Auch aus den neueren Berichten über von Kroatien zu verantwortende sogenannte Push-Backs und Kettenabschiebungen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass derartige Verfahrensweisen auch Dublin-Rückkehrer betreffen könnten.

Nach dem Country Report Croatia (Stand: Juni 2023) von AIDA wurden im Jahr 2022 nach den Daten des Dänischen Flüchtlingsrats 3.461 Personen aus Kroatien nach Bosnien und Herzegowina zurückgeschoben, verglichen mit 9.114 im Jahr 2021, und geht aus den Daten des UNHCR hervor, dass im Jahr 2022 289 Personen von Kroatien nach Serbien zurückgeschoben wurden, verglichen mit 928 im Jahr 2021 (Seite 26 des Reports). Auch aus diesem ausführlichen Report (Seiten 25-35) über die Push-Backs und anderen Verfahrensweisen der kroatischen Polizei gegenüber Ausländern nach unerlaubten Grenzübertritten ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass derartige Verfahrensweisen auch Dublin-Rückkehrern drohen könnten.

In Abweichung von anderen Erkenntnismitteln, wonach es seit dem Beitritt Kroatiens zum Schengen-Raum am 1. Januar 2023 kaum noch Berichte über Push-Backs gegeben haben soll [...], soll die kroatische Polizei nach dem Balkan Regional Report – March 2023 – vom 8. Mai 2023 des Border Violence Monitoring Network (BVMN) im Rahmen eines formellen bilateralen Rückübernahmeverfahrens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina Personen, die in Kroatien noch keinen Asylantrag gestellt haben und denen dies dort auch nicht ermöglicht worden ist, im gesamten kroatischen Staatsgebiet "abgefangen" und nach Bosnien-Herzegowina zurückgeschoben haben. Nach dem Bericht von Human Rights Watch (HRW) "Like we were just animals" vom 3. Mai 2023 (Seite 24) sollen zwischen dem 23. Mai und dem 6. April 2023 im Rahmen dieses Rückübernahmeabkommens 559 Personen nach Bosnien-Herzegowina zurückgeschoben worden sein. Dies betraf aber offenbar ausschließlich Personen, die unerlaubt die Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien überschritten haben und dorthin zurückgeschoben wurden. Ähnlich wie in den vom VGH Baden-Württemberg in dem oben wiedergegebenen Urteil vom 11. Mai 2023 genannten Fällen von Kettenabschiebungen aus Österreich oder Italien über Slowenien, Kroatien nach Bosnien-Herzegowina (juris Rn. 48-57) beruht demnach auch die in den genannten Berichten beschriebene Praxis auf einem Rückübernahmeabkommen. Insoweit besteht aber von vornherein kein erkennbarer Zusammenhang mit der Rücküberstellung von Dublin-Rückkehrern, die bereits als Asylbewerber in Kroatien registriert sind, deren Wiederaufnahme Kroatien ausdrücklich zugestimmt hat, die sodann im Rahmen eines förmlichen Verfahrens von Deutschland nach Kroatien rücküberstellt und – wie noch im Folgenden gezeigt wird – in einem der Aufnahmezentren in Kroatien untergebracht werden.

Anhaltspunkte dafür, dass eine möglicherweise gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC verstoßende Verfahrensweise auch Dublin-Rückkehrern drohen könnte, ergeben sich auch nicht aus anderen Berichten, etwa dem Bericht "Beaten, punished and pushed back" der Protecting Rights at Borders (PRAB) - Initiative von Januar 2023 sowie den anderen vom Verwaltungsgericht Braunschweig in seinem Urteil vom 8. Mai 2023 (– 2 A 269/22 –, juris Rn. 40-54) angeführten Berichten. [...]

Allein aus dem vom Verwaltungsgericht dagegen angeführten Umstand, dass es zu sogenannten Push-Backs an der kroatischen Grenze bzw. bis zu 50 km von der Grenze entfernt und zu Ketten-Abschiebungen ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, von Italien über Slowenien und Kroatien bis nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina gekommen sei, kann keineswegs geschlussfolgert werden, dass "eine solche Verfahrensweise auch Dublin-Rückkehrern drohen könne und ihnen damit ihr Recht auf ein Asylverfahren in rechtswidriger Weise vorenthalten würde" bzw. "dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die dargestellten massiven Menschenrechtsverletzungen Dublin-Rückkehrer nicht betreffen". [...]