EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 29.02.2024 - C-222/22 - JF gg. Österreich - asyl.net: M32204
https://www.asyl.net/rsdb/m32204
Leitsatz:

Subjektive Nachfluchtgründe bei Folgeantrag schließen internationalen Schutz nur bei Missbrauchsabsicht aus:

1. Gemäß Art. 5 Qualifikationsrichtlinie [RL 2011/95/EU; QRL] kann die begründete Furcht vor Verfolgung nicht nur auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem eine schutzsuchende Person ihr Herkunftsland verlassen hat, sondern auch auf Aktivitäten, die die schutzsuchende Person nach Verlassen des Herkunftslands gesetzt hat.

2. Schutzsuchende können sich sowohl im Rahmen eines Erstantrags auf internationalen Schutz als auch im Rahmen eines Folgeantrags grundsätzlich auf Aktivitäten berufen, die nicht Ausdruck und Verlängerung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.

3. Der Ausschluss von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 5 Abs. 3 QRL [hier umgesetzt in § 28 Abs. 3 AsylG] kommt nur in Betracht, wenn die schutzsuchende Person mit Missbrauchsabsicht Umstände schafft, auf denen die Verfolgungsgefahr beruht, um die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen zu bekommen und so das Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes instrumentalisiert.

4. Jeder Folgeantrag auf internationalen Schutz ist deshalb individuell zu prüfen. Insbesondere kann Art. 5 Abs. 3 QRL nicht dahin ausgelegt werden, dass eine widerlegliche Vermutung aufgestellt wird, wonach jeder Folgeantrag, der auf Umständen beruht, die eine schutzsuchende Person nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, auf eine Missbrauchsabsicht und die Absicht, das Verfahren zu instrumentalisieren, zurückzuführen sei.

5. Wird einer Person nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, weil der Folgeantrag auf Umständen beruht, die die Person nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat und die auf eine Missbrauchsabsicht und die Absicht, das Verfahren zu instrumentalisieren, zurückzuführen ist, gebietet der Ausdruck "unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention" gemäß Art. 5 Abs. 3 QRL, dass die schutzsuchende Person trotzdem die durch die Genfer Flüchtlingskonvention gewährleisteten Rechte in Anspruch nehmen kann. Insbesondere darf keine Person in ein Land abgeschoben werden, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht ist, unabhängig davon, ob sie die Gründe der ihr drohenden Verfolgung missbräuchlich gesetzt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Asylfolgeantrag, Flüchtlingseigenschaft,
Normen: AsylG § 28 Abs. 3, AsylG § 28 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 5 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 5 Abs. 3
Auszüge:

[...]

23 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der doppelten Voraussetzung abhängig macht, dass es sich bei diesen Umständen einerseits um im betreffenden Mitgliedstaat erlaubte Aktivitäten handelt und sie andererseits Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind.

24 Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 können die Mitgliedstaaten "[u]nbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention … festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat". [...]

28 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass sich Art. 5 der Richtlinie 2011/95 gemäß seiner Überschrift auf den "[a]us Nachfluchtgründen entstehende[n] Bedarf an internationalem Schutz" bezieht. Zu diesem Ausdruck ist, wie im 25. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausgeführt, ein gemeinsames Konzept zu entwickeln. Hierzu wird in den ersten beiden Absätzen von Art. 5, die im Gegensatz zu seinem dritten Absatz für alle Anträge auf internationalen Schutz gelten, klargestellt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung nicht nur auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller sein Herkunftsland verlassen hat, sondern auch auf Aktivitäten, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands gesetzt hat. Die Verwendung des Ausdrucks "insbesondere" in Art. 5 Abs. 2 in Bezug auf Fälle, in denen diese Aktivitäten nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind, bedeutet, dass sich Antragsteller sowohl im Rahmen eines Erstantrags auf internationalen Schutz als auch im Rahmen eines Folgeantrags grundsätzlich auch auf Aktivitäten berufen können, die nicht Ausdruck und Verlängerung einer solchen Überzeugung oder Ausrichtung sind.

29 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 im Verhältnis zu dem in den ersten beiden Absätzen dieses Artikels aufgestellten Grundsatz Ausnahmecharakter hat, da er zulässt, dass eine Verfolgungsgefahr, die einem Folgeantrag zugrunde liegt und auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, "in der Regel" zum Ausschluss der Anerkennung als Flüchtling führt. In Anbetracht dieses Ausnahmecharakters ist, wie im Wesentlichen vom Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt, die den Mitgliedstaaten durch Art. 5 Abs. 3 eingeräumte Befugnis eng zu fassen.

30 Bestätigt wird diese Auslegung durch die Definition des Begriffs "Flüchtling" in Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention, die sich auch in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 findet und keine Einschränkung im Hinblick darauf vorsieht, dass die begründete Furcht vor Verfolgung aus mindestens einem der dort genannten Verfolgungsgründe auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslands beruhen kann, die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits dort bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.

31 Auch die Entstehungsgeschichte von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 untermauert diese Auslegung. Aus dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates [...] geht nämlich hervor, dass die Kommission durch die Verwendung des Verbs "schaffen" in der Bestimmung der Richtlinie 2004/83, die Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 entspricht, den Fall regeln wollte, dass der Antragsteller die Furcht vor Verfolgung "durch eigenes Zutun erzeugt" hat.

32 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, wie im Wesentlichen vom Generalanwalt in den Nrn. 56 und 64 seiner Schlussanträge ausgeführt, dass die auf Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 gestützte Weigerung, aufgrund eines Folgeantrags auf internationalen Schutz die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, in Anbetracht der Vorsätzlichkeit, die in der Wendung "selbst geschaffene Umstände" zum Ausdruck kommt, darauf abzielt, eine Missbrauchsabsicht des Antragstellers zu ahnden, der die Umstände, auf denen die Verfolgungsgefahr beruht, der er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, "durch eigenes Zutun erzeugt" und damit das anwendbare Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes instrumentalisiert hat. [...]

34 Die Frage, ob die in einem Folgeantrag geltend gemachten Umstände, mit denen das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr aus einem der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 genannten Gründe dargetan werden soll, was zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, von einer Missbrauchsabsicht und einer Absicht zeugen, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, erfordert eine individuelle Prüfung dieses Antrags anhand aller in Rede stehenden Umstände durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie, wobei alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen sind [...].

36 Daraus folgt, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 entgegen dem Vorbringen der österreichischen und der deutschen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die fakultative Umsetzung dieser Bestimmung die Mitgliedstaaten davon befreit, die zuständigen nationalen Behörden zu verpflichten, jeden Folgeantrag auf internationalen Schutz individuell zu prüfen. Diese Bestimmung kann auch nicht dahin ausgelegt werden, dass eine solche Umsetzung es den Mitgliedstaaten erlaubt, eine vom Antragsteller zu widerlegende Vermutung aufzustellen, wonach jeder Folgeantrag, der auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, a priori auf eine Missbrauchsabsicht und die Absicht zurückzuführen ist, das Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes zu instrumentalisieren. [...]

44 In allen Fällen, in denen die mit einem Folgeantrag befasste zuständige nationale Behörde feststellt, dass die vom Antragsteller geltend gemachten Umstände von einer Missbrauchsabsicht und einer Absicht zeugen, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, so dass ihm die Anerkennung als Flüchtling auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 verweigert werden kann, gebietet der Ausdruck "unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention" folglich, dass der Antragsteller im betreffenden Mitgliedstaat trotzdem die durch die Genfer Flüchtlingskonvention gewährleisteten Rechte – die gemäß Art. 42 Abs. 1 der Konvention keinem Vorbehalt unterliegen dürfen – in Anspruch nehmen kann, falls die Behörde im Licht der genannten Umstände feststellt, dass der Antragsteller für den Fall der Rückkehr in sein Herkunftsland wahrscheinlich einer Verfolgung ausgesetzt ist. Zu diesen Rechten zählt das durch Art. 33 Abs. 1 dieser Konvention gewährleistete Recht, wonach kein vertragschließender Staat einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen wird, in denen sein Leben oder seine Freiheit insbesondere wegen seiner Religion bedroht sein würde. [...]

46 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der Voraussetzung abhängig macht, dass diese Umstände Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung des Antragstellers sind. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der Voraussetzung abhängig macht, dass diese Umstände Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung des Antragstellers sind. [...]